|
Symptome |
% |
Bereich |
Gesundheitliche
Probleme |
|
|
Müdigkeit |
85 |
86 -
87 % |
Muskelschmerzen |
80 |
71 -
86 % |
Gelenkschmerzen |
80 |
71 -
79 % |
Schwäche |
|
|
in früher befallenen Muskeln |
80 |
69 -
87 % |
in früher nicht befallenen Muskeln |
60 |
50 -
77 % |
Kälteintoleranz |
45 |
29 -
56 % |
Atrophien |
35 |
28 -
39 % |
Probleme bei Aktivitäten des
täglichen Lebens |
|
|
Gehen |
75 |
64 -
85 % |
Treppensteigen |
70 |
61 -
83 % |
Ankleiden |
40 |
16 –
62 % |
Die postpoliomyelitische
progressive Muskelatrophie (PPMA) ist eine erneute, meist langsam progrediente (voranschreitende) Muskelschwäche mit oder
ohne Myalgien
(Muskelschmerzen) und Atrophien (Muskelschwund) in initial
(anfangs) betroffenen oder ausgesparten Muskeln, und/oder die erneute
Beteiligung der bulbären (im Hirnstamm gelegen) oder
Atemmuskulatur, vor allem bei Patienten mit Residualparesen (zurückgebliebenen
Lähmungen) in diesen Muskelgruppen. Das Lähmungsmuster entspricht dem der
vorausgegangenen Kinderlähmung und ist nicht symmetrisch, sondern bunt gemischt
wie bei einer akuten Kinderlähmung und meist proximal
(stammnah) betont. Die stets schlaffen Paresen können
sich auf andere, von der früheren Kinderlähmung nicht betroffenen Muskeln
wahllos ausweiten. Das bedeutet, daß die
Poliomyelitis in diesen Muskeln bei der akuten Erkrankung so mild abgelaufen
ist, daß der Betroffene, aber auch das Pflegepersonal
und die Ärzte, die Beteiligung dieser Gliedmaßen gar nicht wahrgenommen haben.
Doch hat es immerhin so viel Verluste an motorischen Neuronen gegeben, daß nach vielen Jahren der Überlastung sich nun neue
Schwächen entwickeln können. Faszikulationen, Krämpfe und eine Pseudohypertrophie (scheinbare Verdickung) der
Muskeln sind möglich. Ebenso sind zusätzliche Reflexausfälle möglich. Sensibilitätsstörungen im Bereich der
betroffenen Muskulatur fehlen völlig.
Auch über chronische
Abgeschlagenheit, Müdigkeit, Kälteintoleranz, Schlaf- und Atembeschwerden wird
berichtet. Typisch ist, daß sich die Ermüdbarkeit nach
einer Ruhephase von 30-120 min bessert. Im Gegensatz zu Patienten mit einem chronischen Müdigkeitssyndrom (= CFS = chronic-fatigue-syndrom)
bessert sich die Ermüdung bei Post-Polio-Patienten also nach kurzen Ruhephasen
und verhindert nicht generell die Berufsausübung. Begleitende Hirnnervenlähmungen
können zu Schluckstörungen mit erhöhtem Aspirationsrisiko
(Risiko des sich Verschluckens), respiratorischer Insuffizienz (Versagen der Atmung), Dysarthrie
(Sprechschwierigkeiten) und Heiserkeit führen. Bei etwa 30% der Patienten
werden diese Schluckstörungen beobachtet. Aber nur ein Teil dieser Patienten
berichtet über Beschwerden.
Auch die Atmung kann sich
verschlechtern. Der Patient bemerkt dabei nach Anstrengung eine länger
andauernde Kurzatmigkeit als früher. Besonders bei Infektionen der Atemwege
oder nach Vollnarkosen kann diese Funktionsstörung dekompensieren
(entgleisen), so daß eine ausgeprägte Kurzatmigkeit
schon in Ruhe besteht. Bei leichteren Störungen macht sich die Beeinträchtigung
der Atmung oft nur als nächtliche Funktionsstörung in Form der sog. “Schlafapnoe“
bemerkbar.
Die Diagnosestellung des
PPS ist äußerst schwierig. Spezifische Testverfahren, die das Vorliegen eines
PPS beweisen oder ausschließen, gibt es nicht. Dazu kommt, daß
es manchmal schwierig ist, eine früher durchgemachte Kinderlähmung eindeutig zu
sichern. Das PPS ist also eine klinische Diagnose und in erster Linie eine
Ausschlussdiagnose. Das heißt, es erfordert die Notwendigkeit, andere
internistische, neurologische, orthopädische und psychiatrische Erkrankungen
auszuschließen, die ebenfalls die Symptome erklären könnten.
Wenn man die Diagnose PPS
stellen will, sind einige Überlegungen zu berücksichtigen. Erstens sind
Symptome wie Schmerzen und Müdigkeit ziemlich allgemein und unspezifisch. Alle
möglichen Ursachen auszuschließen, ist deshalb wenig praktikabel und kann mit
hohen Kosten verbunden sein. Zweitens können allgemein-medizinische,
orthopädische oder neurologische Erkrankungen vorliegen, die sehr ähnliche
Symptome verursachen. Auch für den erfahrensten Kliniker kann so die
Entscheidung, welche Symptome durch PPS und welche durch andere Störungen verursacht
werden, zu einer extremen Herausforderung werden. Grundlage der Diagnose ist in
jedem Fall die Schilderung der Beschwerden und eine genaue körperliche
Untersuchung durch den Arzt.
Nach Dalakas
sollten zur Diagnosestellung des Postpolio-Syndroms folgende
Einschlusskriterien vorliegen:
·
Eine Anamnese (Vorgeschichte) einer akuten paralytischen
Poliomyelitis in der Kindheit oder Jugend.
·
Eine partielle (teilweise) Erholung der Paresen
(Lähmungen) mit einer Periode neurologisch-funktioneller Stabilität für
wenigstens 15 Jahre.
·
Residuelle (zurückgebliebene), asymmetrische Muskelatrophien
(Muskelschwund) und/oder Muskelschwächen, Areflexie
(Nerven-Reflex-Verlust) und normale Sensibilität (zumindest in einem Glied).
·
Entwicklung neuer neuromuskulärer
Symptome wie Ermüdbarkeit und Muskelschwäche sowie Muskel- und Gelenkschmerzen.
·
Ausschluss anderer diese Symptome erklärender Ursachen wie z. B. Radikulopathien,
Neuropathien
und Arthrosen
sowie
·
eine normale Sphinkterfunktion (Schließmuskelfunktion).
Differentialdiagnostisch (Diagnose in
Abgrenzung von anderen Erkrankungen) müssen auch Radikulopathien
(Nervenwurzelerkrankungen), Arthrosen (Gelenkdegenerationen), Neuropathien
(andere Nervenerkrankungen, wie das Karpaltunnelsyndrom),
ulnare (am Unterarm gelegene) Neuropathien sowie
andere Neuropathien, die durch den langjährigen Gebrauch von Gehhilfen oder
Rollstuhl und schlechter Körperhaltung entstehen, als Ursachen der erneuten Paresen (Lähmungen) ausgeschlossen werden.
In diesem Rahmen werden auch eine Reihe von Zusatzuntersuchungen
durchgeführt. Hierzu zählen je nach Symptomatik: Elektromyographie,
Elektroneurographie, Röntgen- und/oder
Computer- (CT)
und/oder Magnetresonanztomographie (MRT) sowie
gegebenenfalls Liquoruntersuchungen
(Untersuchungen des Nervenwassers). Auch elektroneurographische Untersuchungen (NLG, Nervenleitgeschwindigkeitsmessung) können
wichtige Hinweise ergeben. Finden sich hier beispielsweise deutliche Hinweise
auf eine Schädigung von sensiblen (für das Fühlen zuständige) Nervenfasern, die also
Gefühlsinformationen von Haut und Gelenken in Richtung Rückenmark leiten, so
ist eine andere Erkrankung als ein PPS anzunehmen und diesbezüglich die
Diagnostik zu erweitern, um gezielt behandeln zu können. Durch CT oder MRT
können zunehmende Schwächen, beispielsweise bedingt durch Raumforderungen im
Bereich der Lendenwirbelsäule mit Druck auf Nervenwurzeln ausgeschlossen
werden.
Eine durch ein PPS
hervorgerufene Atemstörung kann im Schlaflabor abgeklärt werden. Aber
auch andere internistische Erkrankungen, wie Schilddrüsenfunktionsstörungen, Anämien
oder eine Herzinsuffizienz sind auszuschließen. Auch an
depressive Störungen mit resultierender Schwäche muss gedacht werden, Patienten
mit einem Zustand nach Poliomyelitis können natürlich genauso wie Gesunde an
einer Depression erkranken. Die Häufigkeit des Auftretens unterscheidet sich
zwischen beiden Gruppen aber nicht.
Eine kausale
(ursächliche) Therapie ist bis heute nicht bekannt.
Eine spezifische,
insbesondere medikamentöse Therapie gibt es nicht!
In erster Linie sollten
betroffene Patienten vermeiden, gelähmte oder geschwächte Muskeln weiter
übermäßig zu beanspruchen. Dies bedeutet:
·
regelmäßige Pausen einlegen und Erschöpfung vermeiden
·
belastende Tätigkeiten und Aktivitäten aufgeben oder umstellen
·
zumindest zeitweise Orthesen (Geh-Schiene), Rollstuhl oder
orthopädische Hilfsmittel benutzen.
·
Physiotherapie. Sie stellt eine tragende Säule im
Gesamtbehandlungskonzept dar, u. a. mit: langsam aufbauenden, nicht ermüdenden
Muskelübungen, Massagen, Wärmeanwendungen etc.
·
eventuell Psychotherapie mit Informations- und Gesprächsangeboten,
ebenso wie Unterstützung bei emotionalen und psychosozialen Problemen.
·
Erlernen der eigenen Belastbarkeitsgrenzen und Strategien zur
Vermeidung weiterer Überlastung.
PPS-Patienten vertragen etliche Medikamente
schlecht, wie z. B.
·
Narkotika
·
Muskelrelaxantien
·
Psychopharmaka
·
Betablocker
·
nichtsteroidale Antirheumatika
·
einige Antibiotika (Aminoglykoside, Tetrazykline, Gyrasehemmer u. a.)
·
Fibrate
·
Statine
·
Antiallergika
·
Novalgin
Dies bedeutet nicht, daß man diese Medikamente etwa nicht geben darf, sondern daß man sich den Einsatz dieser Medikamente sehr gut
überlegen sollte, ob er wirklich unabdingbar notwendig ist und nicht durch
andere, besser verträgliche, ersetzt werden kann. Dann sollte man auf jeden
Fall diese Medikamente sehr viel vorsichtiger und eventuell niedriger dosieren,
als sonst üblich.
·
Üblicherweise sollte die Medikamentendosis zunächst durch zwei
geteilt werden.
·
Postoperative Beatmung muß zwei
Mal so lang durchgeführt werden
·
Die Erholungszeit muss zwei Mal so lang berechnet werden.
·
Die Schmerzbekämpfung wird zwei Mal so lange benötigt.
·
Die Erholungszeit bis zum (Heim)Gehvermögen und der
Klinikaufenthalt müssen zwei Mal so lang veranschlagt werden.
·
Auch die Erholungszeit zu Hause und die Zeit bis zur
Wiederaufnahme der Arbeit, sowie die Zeit, bis man sich wieder “normal"
fühlt, ist zwei Mal so lang.
Körperlich überanstrengende
Tätigkeiten vermeiden. Tagesablauf mit genügend Ruhephasen planen. Physiotherapie nicht auf Muskelaufbau
(maximales Leistungstraining), sondern auf eine schonende Muskelerhaltung
ausrichten.
·
Dalakas, M. C.,
Bartfeld H., Kurland L. T. (Ed): The
Post-Polio-Syndrome. Annals of the New York Academy of Science, Vol. 753
(1995), ISBN 0-89766-918-5, ISSN
0077-8923
·
Halstead, L. S., Grimby,
G.: Das
Post-Polio-Syndrom. G. Fischer, Jena, (1996), ISBN 3-437-31036-4
·
Halstead, L. S.: Die Behandlung des
Post-Polio-Syndroms. Ein Leitfaden für den Umgang mit den Spätfolgen nach
Poliomyelitis. Bundesverband Poliomyelitis e. V. (2002), ISBN 3-9804519-3-3,
ISSN 0941-603X
·
Lahiri, D. K.
(Ed): Protective Strategies for Neurodegenerative Diseases.
Annals of the New York Academy of Science, Vol. 1035 (2004), ISBN 1-57331-530-3, ISSN
0077-8923
·
Weber, M. A., Schönknecht, P., Pilz, J., Storch-Hagenlocher,
B.:
Postpolio-Syndrom. Neurologische und psychiatrische Aspekte. Nervenarzt, 75,
347 – 354 (2004)
·
Polio Initiative
Europa e. V.
·
Dokumentenliste des Polio-Forums
·
Schweizerische
Interessengemeinschaft für Polio-Spätfolgen (SIPS)
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